Eine kleine Chronik

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Der Wetzlarer Dombau-Verein e.V.

Der zweite Wetzlarer Dombau Verein

Bereits 1900 hatten zunächst die Baubehörden der Rheinprovinz und dann 1901 eine Ministerialkommission aus Berlin das marode Gebäude besichtigt. Übereinstimmend mit dem Urteil des Provizialkonservators fiel die Beurteilung der anstehenden Aufgaben bei allen Gruppen aus: Teilmaßnahmen würden den Bau nicht mehr retten können; eine Generalsanierung war unumgänglich. Die nachfolgenden Schritte erfolgten alsdann rasch und zielgerichtet. Der Regierungsbaumeister Friedrich Ebel erledigte die erforderlichen Vorarbeiten, dem Regierungsbaurat Ernst Stiehl wurde die Bauleitung übertragen. Eine Kostenschätzung aus dem folgenden Jahr wies Gesamtkosten von einer Million Mark aus. Auf Anregung des Landrats Dr. Sartorius im Oktober 1901, erneut einen Dombau Verein in Wetzlar zu gründen, fand die Vereinsgründung tatsächlich am 16. Dezember desselben Jahres statt. Da der Zustand der Kirche den lokalen und regionalen Behörden bereits bekannt war, entfiel die Aufgabe des ersten Wetzlarer Dombau-Vereins, Sprachrohr und Kommunikationspartner gegenüber den Behörden zu sein. Stattdessen fiel dem neugegründeten Verein erstmals eine viel weitreichendere Aufgabe zu, nämlich als Träger der finanziellen Regelung der Wiederherstellung zu fungieren. Damit übernahm er vorübergehend die traditionelle Aufgabe der "Dombauhofsprovision" [9].

Bereits im Oktober 1902 schoss er 20.000 Mark vor, damit die Arbeiten zur Wiederherstelllung des Heidenturms beginnen konnten. Die Zahl der Mitglieder lag 1903 schon bei über 800 und steigerte sich in kurzer Zeit auf 999. Eine deutschlandweite Lotterie zu Gunsten der Domrenovierung war 1902 genehmigt worden; sie erbrachte einen Erlös von 650.000 Mark. In der Kostenschätzung waren die Leistungen des Dombau-Vereins selbst noch mit 94. 700 Mark veranschlagt; tatsächlich steuerte er, wie die Schlussrechnung ergab, nur 77.500 Mark zu den Renovierungskosten bei. Der Kaiser spendete einen nennenswerten Betrag [10], die Restkosten verteilten sich auf die beiden Gemeinden, den Landkreis und die Rheinprovinz; der Dalberg'sche Kirchen- und Schulfonds war von Leistungen ausgenommen worden.


Der Wetzlarer Dom, während der Restaurierung eingerüstet. Fotografie, wahrscheinlich 1907

Blicken wir kurz in das Innenleben des zweiten Wetzlarer Dombau-Vereins. Es ist sicher interessant, dass der Verein neben der einfachen Mitgliedschaft auch die Aufnahme von natürlichen und juristischen Personen als "Patrone" vorsah, was übrigens auch der schon mehrfach zitierte Kölner Dombau-Verein so hielt. Ein Mitgliederverzeichnis vom August 1908 nennt unter den Patronen noch den 1902 auf Capri verstorbenen Friedrich August Krupp aus Essen, den Bergwerksbesitzer Heinrich Kraemer, der für die Nationalliberale Partei aus dem Wahlkreis Koblenz 1 – Wetzlar und Altenkirchen – von 1890 bis 1905 im Reichstag saß, Eugen van Zypen, Generaldirektor der Firma van Zypen, die in Köln eine Fabrik für Waggons und elektrische Schienenfahrzeuge betrieb, den Giessener Tabak- und Keramikfabrikanten Wilhelm Gail, Johann Nepomuk Heidemann, Generaldirektor der Vereinigten Köln–Rottweiler Pulverfabriken AG, einer der beiden bedeutendsten deutschen Hersteller von Schieß- und Sprengpulver, die Buderus'schen Eisenwerke, den Fabrikanten Ernst Leitz, Georg Friedrich Fürst zu Solms-Braunfels und die Stadt Wetzlar sowie eine Reihe prominenter und wohlhabender Wetzlarer Bürger. Die z. T. deutschlandweit bekannten Persönlichkeiten waren nicht nur Förderer, sondern auch "Aushängeschilder" des Dombau-Vereins. Sie waren erforderlich, um z. B. der deutschlandweiten Lotterie, aus der ja der überwiegende Teil der Baukosten finanziert wurde, zum Erfolg zu verhelfen. Es mag angemerkt werden, dass die Finanzierung einer Kirchenrenovierung aus einem Glücksspiel wegen der offenkundigen moralischen Problematik für keine der beiden Kirchengemeinden tunlich gewesen wäre. Hier drängte es sich geradezu auf, dem Verein als juristischer Person diese Aufgabe zu übertragen. Andererseits war sicherzustellen, dass sich der Verein auf die Sammlung und Weitergabe der bei ihm zusammenfließenden Mittel beschränkte und keinen Einfluss auf Ablauf und Inhalt der Bautätigkeit und insbesondere auf gestalterische Fragen nehmen konnte, ein Anliegen, auf das schon die Satzung des Dombau-Vereins von 1869 im § 2 Bezug genommen hatte: Der Verein wird demnach die Kirchenbauhofsprovision (der 1914 in "Dombauverwaltung" umbenannten Einrichtung d.V.) , welcher zunächst die Fürsorge für die bauliche Erhaltung und den Ausbau des Domes obliegt, in ihrer Aufgabe unterstützen.


Ernst Stiehl
Der für die Restaurierung des Wetzlarer Doms 1903 – 1910 verantwortliche Baumeister hat sich nach dem Vorbild mittelalterlicher Baumeister selbst als Konsolfigur dargestellt.

Die Verwendung der vom Verein für den Ausbau bestimmten Mittel wird demgemäß stets im Einverständnis mit der Dombauhofsprovision erfolgen, welcher selbstverständlich die Disposition über alle baulichen Veränderungen des Domes verbleibt. Man darf folglich die seit der Gründung des ersten Wetzlarer Dombau-Vereins bis heute beachtete Karenz des Vereins in baulichen und gestalterischen Fragen als ein verpflichtendes Erbe ansehen, dem sich alle bisherigen Vereinsvorstände bereitwillig untergeordnet haben.

Die Generalsanierung des Doms ist an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden [11]. Gegenüber dem heutigen Zustand war die Beibehaltung des Lettners mit der darauf befindlichen sog. katholischen Domorgel auffällig. Beide – Lettner und Orgel – schränkten die Sicht vom Schiff aus in den Chor erheblich ein, so dass der Eindruck von zwei Kirchen unter einem Dach, wie er 1838/39 und in den Folgejahren erzeugt worden war, weiterhin bestand. Im Verlauf der Bauarbeiten 1903 – 1910 tauchte auch wieder die Idee von der Fertigstellung der Kirche auf. Da es – anders als beim Kölner Dom – für Wetzlar keine mittelalterlichen Planungsunterlagen gab, legte der Dombaumeister Ernst Stiehl einen Aufriss für die Westfassade vor, dessen Ausführung allerdings die Beseitigung der spätromanischen Baureste Heidenportal und Heidenturm erfordert hätte. Danach wäre der noch fehlende zweite Westturm ausgeführt worden und beide Türme hätten – nach dem Vorbild Kölns und Freiburgs - durchbrochene steinerne Helme erhalten. Die Idee verschwand – wahrscheinlich aus Kostengründen – bald wieder in der Schublade.

Insgesamt fielen die Sanierungsarbeiten gegenüber dem Kostenvoranschlag um 50.000 Mark günstiger aus, so dass dem Dombau-Verein hinreichende Mittel verblieben, um auch später eventuell erforderliche Arbeiten finanziell unterstützen zu können. Am 10. und 11. Dezember 1910 konnte der Wetzlarer Dom nach siebenjähriger Bauzeit wieder seiner Bestimmung übergeben werden. Beide Gemeinden hatte wegen der Bauarbeiten jahrelang in andere Kirchen ausweichen müssen.


Der Wetzlarer Dom nach der Restaurierung Aquarell von unbekannter Hand, vor 1925

Die Reaktion auf die getroffenen Maßnahmen, soweit sie sich in der örtlichen Presse spiegelte, war einhellig positiv, wenn auch einige Probleme weiterhin bestanden. So waren z. B. die ungünstigen akustischen Verhältnisse im Langhaus, über die bereits 1863 in einem Artikel des Wetzlarer Kreis- und Anzeige-Blattes Klage geführt worden war, nicht wesentlich verbessert worden [12]. Der verantwortliche Baumeister war offenbar nach den Maßstäben der damaligen Zeit schonungsvoll mit der historischen Substanz umgegangen und hatte notwendige Ergänzungen möglichst nahe an der Stilistik noch vorhandener Bauelemente vorgenommen und darüber hinaus die Vorgänge am Bau zeichnerisch und fotografisch dokumentiert. Bei seiner Arbeit standen Stiehl auch die fotografischen Unterlagen Albrecht Meydenbauers zur Verfügung, der die Methodik der fotografischen Vermessung und Dokumentation von Bauwerken am Wetzlarer Dom wesentlich mit- und weiterentwickelt hatte.

Das positive Ergebnis der Grundsanierung des Doms hatte allerdings auch zur Folge, dass sich in der Öffentlichkeit die bereits erwähnte Vorstellung ausbreitete, der Dom wäre nun auf längere Sicht gesichert, mit weiteren Maßnahmen und damit verbundenen Kosten müsste man daher nicht mehr rechnen. Wie das Interesse schwand, lässt sich deutlich an der Rückentwicklung der Mitgliederzahl des Dombau-Vereins ablesen. Die Spitze des Mitgliederbestands lag 1904 bei 999 Personen, ging aber schon 1908 auf 485 Personen zurück. 1910 war sie wohl wegen der Einweihung des restaurierten Doms wieder auf 550 Mitglieder angewachsen; kurz vor dem ersten Weltkrieg betrug sie jedoch nur noch 250 Personen, nach dem ersten Weltkrieg 180, 1924 noch 135 und 1936 noch 54 Mitglieder. Im März 1936 diskutierte der damalige Vorstand die Auflösung des Vereins, die dann am 5. April in einer letzten Mitgliederversammlung beschlossen wurde. Das Vermögen des Vereins war bis 1924 durch die Inflation in der Zwischenkriegszeit dezimiert worden und betrug im Frühjahr 1938 noch knapp 4.000 Reichsmark, die mit der Liquidierung des Vereins satzungsgemäß an die Dombauverwaltung übergingen. Der Vorstand legte Wert auf die Feststellung, der Verein hätte nach dem Abschluss der Sanierung und der Rückübertragung der Unterhaltspflicht auf die Dombauverwaltung seinen Zweck erfüllt und sich deshalb schon früher auflösen können. Auch wären in in den Jahren 1934 und 1935 keine Mitgliedsbeiträge mehr eingezogen worden, jedoch hätten einige ältere Mitglieder weiterhin freiwillige Spenden an den Dombau-Verein geleistet und damit bislang die nun erfolgte Auflösung des Vereins verhindert. Mit der Selbstauflösung Anfang April 1936 entging der Verein jedenfalls dem, was seit den beiden Gesetzen vom März und April 1933 "Gleichschaltung" hieß und seitens der NSDAP mit starkem Druck auf Vereine und Institutionen durchgesetzt wurde. Der Landrat als Vorsitzender und der Bürgermeister der Stadt Wetzlar als weiteres Vorstandsmitglied des inzwischen faktisch ruhenden Dombau-Vereins konnten sicher abschätzen, ob und welche Pressionen zu erwarten gewesen wären, falls sich der Verein nicht selbst aufgelöst hätte.